Für ein neues Projekt: Konsequenzen ziehen und Chancen ausloten

Mit der katastrophalen Wahlniederlage der SPD bei der Bundestagswahl sind wir beim Tiefpunkt angelangt. Alle Kräfte innerhalb der SPD müssen sich jetzt darauf konzentrieren, dass die SPD aus diesem Tief findet.

Entscheidungsprozesse vom „Kopf“ auf die „Füße“ stellen

Mit der katastrophalen Wahlniederlage der SPD bei der Bundestagswahl sind wir beim Tiefpunkt angelangt. Alle Kräfte innerhalb der SPD müssen sich jetzt darauf konzentrieren, dass die SPD aus diesem Tief findet.

Um einen Weg aus der Krise herauszufinden, bedarf es in den internen Entscheidungsprozessen eine deutliche Änderung. Wir haben es in den letzten Jahren mehrfach erleben müssen, dass Ergebnisse ohne Diskussionsprozesse verkündet wurden. Eines der herausragendsten Beispiele hierfür ist die „Renten mit 67″. Das Ergebnis wurde von Franz Müntefering verkündet, ohne dass akuter Handlungsbedarf bestanden hat und dieses Thema in der Partei oder Fraktion diskutiert wurde. Es darf daher nicht verwundern, dass die Genossinnen und Genossen vor Ort sich nicht in der Lage sahen – selbst wenn die Bereitschaft hierzu vorhanden war – diese Forderung an den Infoständen selbstbewusst zu vertreten.

Wir fordern daher für die Zukunft, dass die Entscheidungsprozesse vom „Kopf“ wieder auf die „Füße“ gestellt werden. Am aufgezeigten Beispiel hätte die Frage in einem breiten parteiinternen und gesellschaftlichen Diskurs bearbeitet und ein etwaiges Ergebnis auf einem Bundesparteitag verabschiedet werden müssen. Ein solcher Prozess setzt voraus, dass die Partei vorab definiert, welches Ziel sie vereint und, dass über die Wege zum gemeinsamen Ziels kontrovers auch diskutiert wird. Hierbei dürfen die Mitglieder sich nicht reflexartig Argumenten verschließen, nur weil sie aus einer anderen „Strömung“ kommen. Dabei muss Schluss sein mit der „Tyrannei der Minderheit“. Es darf nicht mehr vorkommen, dass Positionen, die von der überwiegenden Mehrheit der Partei getragen werden, nicht durchgesetzt werden, weil Einzelne der Meinung sind, dass dies nicht ginge. Das gilt für den Spitzenfunktionär, der die Meinung der Parteimitglieder ignoriert oder einzelne Abgeordnete, die sich der überwältigenden Mehrheit eines Parteitags verweigern, wie in Hessen geschehen.

Argumente zählen, nicht Behauptungen

Am Beispiel der anvisierten Privatisierung der Bahn lässt sich aufzeigen, dass in den letzten Jahren Behauptungen und keine nachweisbaren Argumente zu Entscheidungen geführt haben. Hier wurde behauptet, dass eine Bahnprivatisierung dringend erforderlich sei, um eine anstehenden Sanierung des Schienennetzes finanzieren zu können. Es wurde behauptet, eine Finanzierung über den Haushalt sei nicht möglich. Wir haben verfolgen können, dass eine Sanierung über den Haushalt sehr wohl möglich ist und von einer Privatisierung durch die Neoliberalen Abstand genommen wurde.

Konsequenzen aus den Ursachen der Wahlniederlage

Die Gespräche im Wahlkampf haben gezeigt, dass die Themen der SPD wie Mindestlohn oder Atomausstieg durchaus auf Zuspruch bei den Wählerinnen und Wählern gestoßen sind. Es wurde uns nicht geglaubt, dass diese Forderungen mit möglichen Koalitionspartnern wie FDP oder CDU auch umgesetzt werden können. Wir fordern daher für die Zukunft keinen Ausschluss von möglich Koalitionen. Koalitionsentscheidungen müssen anhand der politischen Schnittmenge und nicht persönlichen Vorlieben geschlossen werden.

Glaubwürdigkeit in Frage gestellt

Die Politik der letzten Jahre hat nicht dazu geführt, dass die Wählerinnen und Wähler unsere „Wahlversprechen“ als glaubwürdig eingeschätzt haben. Der Umgang mit der Mehrwertsteuer zu Beginn der Großen Koalition oder die Vorgänge in Hessen haben dazu wesentlich beigetragen.

Ängste wahrnehmen

Die große Koalition hat weiter zu einer Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger geführt. Quer durch alle Arbeitsmilieus haben sie Angst vor einer drohenden Arbeitslosigkeit erlebt, weil dies nach der Zeit des Arbeitslosengeldes zu einem „Abrutschen\“ in Hartz IV und somit zu einem vermeintlichen Auflösen des Ersparten geführt hätte. Weiter hat zu einer großen Verunsicherung die Ausweitung der zeitlich befristeten Arbeitsverträge geführt. Für junge Menschen erscheint eine familiäre Planung aus Angst vor Veränderung kaum möglich. Darüber hinaus wurde diese Entwicklung durch die Ankündigung von „Rente mit 67″ verstärkt. ArbeitnehmerInnen haben Angst davor, ihren Beruf nicht bis zu diesem Alter ausüben zu können und dann über Rentenabschläge im Alter den Lebensstandard nicht halten zu können.

Auf der Suche nach der verlorenen „Mitte“

Die SPD ist 1998 angetreten, Deutschland sozial, wirtschaftlich, ökologisch und gesellschaftlich nachhaltig zu modernisieren. Explizit wendete sie sich dabei an eine leistungsorientierte sowie individuell und gesellschaftlich ehrgeizige Mittelschicht, die soziale Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität im Einklang mit der Umwelt verbunden wissen wollte. In vielen Bereichen ist das gelungen: Umweltpolitik, Gleichstellung und Antidiskriminierung und nicht zuletzt Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sind Beispiele hierfür.
Nach elf Regierungsjahren lässt sich allerdings feststellen, dass eine in den Anfangsjahrzehnten der Bundesrepublik homogene Mittelschicht kaum noch existiert. Die Wirtschafts- und Sozialreformen, insbesondere unter rot-grün, haben dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen nicht ausreichend Rechnung getragen, stattdessen die Angst vor dem sozialen Abstieg in die ehemals sich sicher wähnende Mittelschicht getragen.

Bildungsmisere und soziale Aufstiegshemmnisse schon in der Schule, prekäre Arbeitsverhältnisse sowie möglicher Wohlstandsverlust durch Abrutschen in den Arbeitslosengeld-II-Bezug schüren mehr und mehr Zukunftsängste. Die Einführung der privaten Altersvorsorge und der Verlängerung der Lebensarbeitszeit haben das Vertrauen vieler Menschen in die sichernde Solidargemeinschaft erschüttert.

So ist fraglich, inwiefern der bisherige Begriff der Leistungsträger noch im selben Maße gebrauchsfähig ist wie 1998. Festzustellen ist heute, dass die „neue Mitte“ so kaum zu identifizieren ist. Daher ist für die SPD die jetzige Findungsphase auch damit verbunden, die Zielgruppe sozialdemokratischer Politik neu zu definieren. Begriffe wie der der „Neuen Mitte“ oder der „solidarischen Mehrheit“ erscheinen ebenso plausibel wie abstrakt und bleiben damit für eine Zielgruppendarstellung zu unkonkret.

Die Entwicklung von Zukunftsperspektiven für die Menschen muss im Vordergrund unserer Politikangebote stehen. Ur-sozialdemokratische Begriffe wie Gerechtigkeit und soziale Sicherheit müssen in konkrete, solidarische Konzepte gemünzt werden. Wir gehen davon aus, dass verschiedene Ideen entwickelt und bestehende weiterentwickelt werden.

Politik nicht nur vertreten, sondern auch machen

Wir müssen adäquate Bündnispartner für unsere Grundsätze finden. Die Menschen interessiert vor allem, was wir praktisch umsetzen. Es ist die Erfahrung aus elf Regierungsjahren der SPD, dass es eine enorme Diskrepanz zwischen dem gibt, was wir in Wahlkämpfen vertreten haben und dem, was dann in der Regierung an realer Politik umgesetzt wurde. Vor allem in den Jahren der schwarz-roten Koalition wurde dies gerne damit begründet, dass mit dem Koalitionspartner eben nichts Anderes umsetzbar sei. Diese Argumentation stellt die zwingende Frage, mit welchen Bündnis- und Koalitionspartnern unsere Vorstellungen umsetzbar sind.

Die Parteibindung tritt bei den Menschen immer mehr in den Hintergrund. Eine sehr viel stärkere Ausrichtung an den individuellen Interessen spielt bei der Wahlentscheidung eine große Rolle. Dadurch geraten die Machtoptionen, die Parteien für die Umsetzung ihrer Positionen anbieten müssen, immer mehr ins Blickfeld. Wir sind der Überzeugung, dass dabei die Themen demographischer Wandel, die Schere zwischen arm und reich, die Entwicklung eines nachhaltigen Arbeits- und Wachstumsbegriffes sowie die Herausbildung sozialdemokratischer Wirtschaftskompetenz über die Zukunftsfähigkeit der Sozialdemokratie entscheiden werden. Es kommt dabei nicht nur auf gute Ideen an, sondern wir müssen diese sowohl inhaltlich als auch strategisch glaubwürdig kommunizieren können.

Die Tabus sind endgültig gefallen

Bereits im Mai 2008 hat die „Denkfabrik“ in ihrem Papier „Für eine selbstbewusste Strategie linker Politik“ die Grundsätze ihres politischen Selbstverständnisses festgelegt.

Was damals noch ein mutiger Schritt war, muss heute eine Selbstverständlichkeit sein. Für politische Perspektiven jenseits der großen Koalition und der sog. „Ampel“ wird dabei auch die Entwicklung von Bündnis 90/ Die Grünen immer wichtiger. Wir müssen gerade die Dissenspunkte genau herausarbeiten. Diese sind beispielhaft schon jetzt sichtbar: Verantwortung im Rahmen der internationalen Gemeinschaft versus Fundamentalpazifismus, Orientierung auf die Arbeitsgesellschaft und Vollbeschäftigung versus bedingungsloses Grundeinkommen, Europäische Integration versus Rückfall in die nationale Kleinstaaterei.

Deutlich wird aber schon heute, dass die unterschiedlichen Ansätze in solchen Konfliktfeldern nicht zwischen SPD und Linke verlaufen, auch nicht zwischen SPD/Grüne und Linke, sondern quer durch diese politischen Lager. Auch bilden die drei Parteien keine homogenen Einheiten, sondern zeigen eine deutliche Vielschichtigkeit, wenn auch mit unterschiedlichen innerparteilichen Gewichtungen. Das bedeutet, dass es bei diesem Diskussionsprozess keine „richtige“ und „falsche“ Seite gibt und dass es auch darauf ankommt, die eigene Basis „mitzunehmen“.

Wir sind nicht naiv. Wir wissen, dass politische Veränderungen nur auf der Grundlage von entsprechenden Machtkonstellationen machbar sind. Wir wollen andere Machtkonstellationen als die Gegenwärtigen. Dem muss jedoch ein politischer Prozess vorausgehen, der tatsächliche politische Veränderungen ermöglicht. Das Scheitern des rot-grünen Reformprojektes bereits nach sieben Jahren mag auch darin begründet sein, dass in den 90er Jahren nicht rechtzeitig und intensiv genug herausgearbeitet wurde, welche politischen Projekte eine rot-grüne Mehrheit umsetzen könnte.

Wir glauben, dass der rechtzeitige Beginn eines Dialogs zwischen SPD, der Partei Die Linke und Bündnis90/Die Grünen neue politische Perspektiven eröffnen kann. Wir wissen auch, dass eine rot-rot-grüne Regierung und die sie tragenden Fraktionen mehr unter Druck stehen würden, als jede andere Konstellation. Deshalb müsste eine solche Koalition nicht nur funktionieren sondern auch krisenfest und sich der Unterstützung breiter gesellschaftlicher Bündnispartner sicher sein.

Diese Überlegungen bedeuten für die Denkfabrik, die in weiten Teilen auch Teil der SPD-Bundestagsfraktion ist, klare Konsequenzen in der parlamentarischen Arbeit. Das Wort „keine Koalition in der Opposition“ ist ebenso unbestreitbar wie interpretierbar. Klar ist, dass jede Oppositionsfraktion ihr eigenes Profil entwickeln und dieses in Konkurrenz zu den Anderen herausstellen muss. Wer aber in Punkten, in denen man sich völlig einig ist, die Zusammenarbeit mit den anderen Oppositionsfraktionen verweigert, betreibt das Geschäft des politischen Gegners und führt Fraktion und Partei endgültig in die Isolation.

Dass es ein rot-rot-grünes-Projekt auf Bundesebene geben könnte, ist möglich, aber keineswegs selbstverständlich. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass es aufgrund zu großer Differenzen auf absehbare Zeit nicht realisierbar ist. Den Versuch aber, dies auszuloten, sind wir unserer Partei, ihrer Geschichte und ihrer Zukunft und den Menschen in unserem Land schuldig.

Wir wollen den Menschen eine Perspektive für ihr Bedürfnis nach sozialer Sicherheit und Stabilität geben. Wir erheben keinen Anspruch, hier alleinige Wortführer für die SPD zu sein. Ganz im Gegenteil. Gerne machen wir als Denkfabrik aber den Anfang und betätigen uns als der entschiedenste, immer weiter treibende Teil in diesem Prozess.

Denkfabrik in der SPD Bundestagsfraktion, Januar 2010

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